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Wenn Influencer die Milchindustrie bewerben …

… müssen wir miteinander Reden – aber wie?

Alicia Joe (Instagram: @aliciagermany) hat mit ihrem gleichnamigen YouTube Video auf Instagram eine faszinierende Resonanz ausgelöst, die zeigt, warum die Diskussion um die Situation der Landwirtschaft so schwierig ist. Doch was ist passiert?

Am 12.01.2022 postete die Influencerin auf Youtube ein Video, in welchem sie ihre Meinung zum “System Milch”, Gesundheitsaspekten und Haltungsformen in 16 Minuten zusammenschnitt und mit Zitaten aus diversen Studien, öffentlich erschienenen Interviews und Postings untermauerte.

Die vier Bäuerinnen Marie Tigges (@marie.vom.tiggeshof), Maren Osterbuhr (@maren.opunkt), Isa Hielscher (@isa.hielscher) und Bettina Hüske (@Baeuerin_Bettina) fühlten ihren Berufsstand derartig diskreditiert, dass sie ein Video erstellten mit der Aufforderung, man müsse miteinander reden. Das Video wird gerade rasant in den Stories und auf Youtube (10.300 Ansichten) weiterverbreitet und stellt die Sichtweise der vier Bäuerinnen dar.

Perspektivwechsel

Ich sehr angetan davon, wie durch Vernetzung und Kooperation und auch mit wieviel Herzblut und Persönlichkeit diese Reaktion entstanden ist. Sie zeigt sehr deutlich: Es gibt Bäuerinnen, die etwas ändern wollen und etwas ändern, die sich wehren gegen Verallgemeinerungen und sich mit ihrer Persönlichkeit für ihren Berufsstand einsetzen.

Ich habe mir das Video von Alicia Joe mehrfach angesehen. Und dabei festgestellt: Je nachdem, welche Brille ich innerlich aufsetze, kann ich die Reaktion der vier Bäuerinnen verstehen – oder auch nicht. Als Vertreter der “Gesellschaft” bin ich hin und her gerissen. Habe ich nicht richtig zugehört? Wird dort wirklich der Berufsstand diskreditiert? Ich höre etwas, was ich schon öfters an anderen Stellen gehört oder gesehen habe… Aber ich höre vor allem: Alicias Meinung, ein paar Quellen und eher die Botschaft, dass man sich selbst darüber Gedanken machen solle.

Jetzt könnte man hier weiter eintauchen und sich fragen: Wer hat was gesagt und gehört. Die Reaktion von Alicia auf das Video macht die Situation nicht besser für beide Seiten, aber eindeutiger (Sie hat sich in einem Kommentar dazu geäußert, ob man von der Couch aus derartige Argumente vorbringen könne). Und obwohl die vier Bäuerinnen deutlich gesagt haben, sie wollten Alicia nicht als einzelne Person angreifen, sondern allgemein etwas klarstellen, erscheint es mir persönlich nun leider doch in eine persönliche Auseinandersetzung zu münden. Darum bin ich für einen Perspektivwechsel:

Was hier passiert ist zutiefst menschlich und nachvollziehbar. Jemand äußert seine Meinung und jemand anderes sieht sich in seiner Meinung angegriffen. Beide ergreifen Partei für ihre Follower oder ihren Berufsstand und sprechen damit nicht nur für sich, sondern nehmen sich das Recht, auch für Andere zu sprechen. Es bleibt aber dabei: Sie bewerten die genannten Fakten unterschiedlich oder sehen auf unterschiedliche Fakten und kommen zu verschiedenen Urteilen.

Doch was wäre ein Lösungsweg?

“Wir müssen Reden!” lautet die erste Aussage des Bäuerinnen-Videos. Ja, doch wie?

Ich persönlich – und ich weiß, dass ich damit meine Meinung kundtue und könnte das auch begründen – glaube fest daran, dass die Antwort für eine Begegnung zwischen Gesellschaft und Urproduktion in einer anderen Aufforderung liegt:

Wir müssen Fragen

Wir müssen bei derartigen Äußerungen nachfragen, was die Konsequenzen sind. Der Beitrag von Alicia Joe wurde zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 527.000 mal aufgerufen und hat über 5.500 Kommentare und rund 46.000 Likes bekommen. Was machen diejenigen, die Liken? Werden sie ihrer Verantwortung gerecht? Wie wird aus dem Like jemand, der sich für die Landwirtschaft interessiert?

Wir sollten fragen, welche Lösung Alicia für die BäuerInnen hat, wenn sie dazu auffordert, Milch nicht mehr zu konsumieren. Und wir sollten fragen, welche Verantwortung Alicia für Entscheidungen der Politik übernimmt, wenn sie ihre Informationen so aufbereitet. Es könnte sein, dass sie Argumentiert: Meine Verantwortung besteht doch darin, diese Situationen zu beschreiben und meinen Followern sichtbar zu machen. Dann müssen wir fragen: reicht das? Reicht es, einfach nur Information zu geben, um die Welt zu ändern?

Wir müssen aber auch die Bäuerinnen fragen: Welche Lösungen seht ihr, wenn sich Gesellschaft verändert? Welche Verantwortung übernehmt ihr für die Gestaltung der Gesellschaft? Denn auch euer Video ist zunächst einmal eine Information, wie die von Alicia. Und mit großer Wahrscheinlichkeit kann die Antwort lauten: Aber wir tun doch schon ganz viel und zeigen dies auch der Gesellschaft. Und auch hier heißt die Frage: reicht das?

Beide Seiten tun mehr als viele VerbraucherInnen und Verbraucher. Es reicht aber nicht wirklich, sonst hätte sich doch schon viel mehr verändert. Aber für Alicia und für Maren, Marie, Isa und Bettina reicht es. Sie haben andere Aufgaben, sie tragen Verantwortung für ihre Betriebe mit allen Tieren, Pflanzen, Feldern und Wiesen, oder auch für ihre Inhalte, die Qualität der Recherche, die Zusammenstellung der Argumente. Doch es reicht nicht, weil die Rückfrage für jeden Like und jeden Kommentar lauten muss: Du hast gelikt: Was tust Du, um unsere Welt zu ändern?

Wir müssen Begegnung erzeugen und wir müssen dafür sorgen, dass in dieser Begegnung immer wieder an die Verantwortung jedes einzelnen appelliert wird. Aber dies kann nicht dadurch geschehen, dass wir dem anderen SAGEN, was zu tun ist, sondern ihn FRAGEN, was er selbst tun kann. Die LÖSUNG dieser Diskussion liegt in der Eigenentscheidung jedes Einzelnen: Trinke ich Milch? Wenn nein – dann ist für mich hier kein Problem. Es sei denn, ich genieße die Almen und Weiden als Kulturlandschaft, die ohne die Beweidung von Nutztieren nicht entstanden und erhalten wären. Wenn ja – welche Milch? Will ich mich mit meinen Lebensmitteln soweit auseinandersetzen, dass ich den Betrieb kenne, von dem die Milch stammt? Will ich die Kuh sehen oder mich um das Kalb kümmern?

Nicht die weitere Sammlung von Fakten und Informationen und die Erweiterung der Darstellung führen zu einer Lösung. Sie baut nur größere Mauern und liefert dem Gegenüber noch mehr Angriffsfläche für weitere Argumente. Denken lässt sich vieles.

Die Kunst besteht darin, das Gedachte ins Tun zu überführen. Die Brücke dafür ist: Die Frage.

Olaf Keser-Wagner – Evokator

Unsere Arbeit

Wir bilden seit Jahren Menschen aus und befähigen sie dazu, anders mit Fragen umzugehen und sich nicht zu rechtfertigen für etwas, nachdem sie nicht gefragt wurden. Wir sind davon überzeugt, dass durch echte Begegnung auf Augenhöhe und echtes Interesse an den Wahrnehmungen, dem Denken und den Zielvorstellungen des Anderen die Fragen auftauchen, an denen wir in Zukunft gemeinsam weiterarbeiten können. Und wir wünschen beiden Seiten einen versöhnlichen Austausch, einen wirklichen Dialog.